Am 8. November ist Aaron an seinem ersten und letzten Prozesstag aus der Untersuchungshaft freigekommen. Nach viermonatiger Untersuchungshaft in der JVA Moabit wurde er u.a. für den Vorwurf eines Steinwurfes am 9.7. zu 20 Monaten Knast, ausgesetzt auf eine dreijährige Bewährungsstrafe, sowie 1000€ an die Justizkasse verurteilt. Ein Deal mit der Staatsanwältin Sadri-Herzog hat die Freilassung möglich gemacht. Über seine Anwält*innen hat sich Aaron zu der Tat bekannt. Dabei hat er sich weder entschuldigt, noch andere belastet. Sadri-Herzog hatte noch bis zum letzten Moment auf eine Distanzierung gedrängt.
Darauf folgend entstanden Diskussionen über U-Haft als Instrument einer politischen Justiz, das Eingehen von Deals, deren Symbolhaftigkeit und die Auswirkungen von gezielter Repression, dem Mittel U-Haft und hoher Strafandrohungen auf eine gesamte Bewegung / Szene. Der folgende Text ist aus der Auseinandersetzung innerhalb der Soligruppe entstanden. Wir haben keine abgeschlossene und einheitliche Position und verstehen diesen Text als Debattenbeitrag und -anregung. Bei der hoffentlich entstehenden Diskussion wünschen wir uns, dass sich von der individuellen Ebene, wie der von Aaron, weg bewegt wird.
Im Umgang mit Repression müssen wir uns immer neu mit unseren eigenen Überzeugungen, mit den Konsequenzen unseres Handelns, mit der Gefahr weggesperrt zu werden, mit Angst und Ohnmacht auseinandersetzen. Die klirrenden Scheiben, die Feuer der Nächte und die unzähligen Menschen, die am 9.7. auf die Straße gegangen sind und gekämpft haben, all dies können die Herrschenden nicht unbeantwortet lassen. Über mehrere Wochen konnten die Bullen der Öffentlichkeit keine Ermittlungserfolge präsentieren. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis die aggressive Kampagne des Rachefeldzugs einsetzt. Die Festnahmen im Rahmen der Demo werden jetzt dazu benutzt, um mit voller Härte und politischer Motivation gegen den Widerstand der letzten Monate vorzugehen. Die Staatsanwältin Janine Sadri-Herzog treibt den Rachefeldzug mit aller Kraft an. Wie trotzen wir den Repressionsschlägen? Indem wir sie gemeinsam beantworten und den Kampf gegen die unterdrückenden Strukturen und Institutionen umso entschlossener fortführen.
U-Haft als Instrument
Untersuchungshaft wird dafür benutzt, individuellen Widerstand zu brechen und ein einschüchterndes Klima zu erzeugen. U-Haft soll isolieren, wodurch es möglich werden kann, Verhaftete in eine scheinbar ausweglose Situation zu bringen. Es soll keine andere Möglichkeit mehr gesehen werden, als auf „Angebote“ der Justiz einzugehen: man soll eine Tat eingestehen, sich entschuldigen, distanzieren oder Gefährt*innen belasten. Andauernde Haft, Isolation, Ungewissheit, eine vermeintlich erdrückende Beweislage, Erpressung seitens der Staatsanwaltschaft, viele Gründe können eine*n dazu bewegen, Kompromisse einzugehen. U-Haft an sich erzeugt Druck auf die angeklagte Person. Die Beweisführung muss dann nicht so genau sein, die Anklage kann hoch angesetzt sein. Denn Angeklagte sind unter der Last der U-Haft vielleicht schneller bereit „nachzugeben“ und scheuen einen langen Prozess. Die hohe Strafe, die zum Beispiel gegen Aaron verhängt wurde, setzt nun eine hohe Messlatte an.
Deals und Offensive Strategien
Wenn wir über offensive Strategien im Umgang mit der Justiz reden, sollten wir nicht vergessen, dass wir in unserem alltäglichen Leben ständig Deals mit dem System eingehen. Warum werden Bußgelder bezahlt? Klar ist, umso weniger Kompromisse gemacht werden, desto höher ist die Gefahr von Bullen, Fahrscheinkontrolleur*innen oder Securities bedroht zu werden. Das letzte Zwangsmittel staatlicher Gefügigmachung ist dann der Knast. Wir regen dazu an, sich neben der Frage nach dem Umgang mit der Justiz auch die Frage des Alltäglichen zu stellen.
Anti-Repressionsarbeit bedeutet solidarisches Verhalten und Widerstand gegen staatliche Repression zu stärken. Repression trifft einzelne, die als Exempel für eine Kampfansage gegen widerständige Strukturen verhaftet, vors Gericht gezerrt und eingesperrt werden. Wird ihnen dadurch auf perfide Art und Weise eine Verantwortung gegenüber den Strukturen aufgebürdet, die sie nie freiwillig auf sich genommen hätten?
Im Gegensatz zur juristischen Verteidigung geht Anti-Repressionsarbeit auch weg von der individuellen Ebene. Was bedeutet dies für die Soligruppe? Sollte sie zum Beispiel „mit offenen Karten“ spielen und Inhaftierten sagen, dass sie will, dass diese ohne Geständnis daraus kommen?
Eine offensive Strategie gegen Repression zu wählen, darf nicht bedeuten, von außen Inhaftierte moralisch unter Druck zu setzen, in dem wir ihnen sagen, dass ein bestimmtes Verhalten „unpolitisch“ wäre – so lange sie sich nicht distanzieren oder andere Personen belasten. Wir wollen nicht, dass der Eindruck entsteht, dass durch das Eingehen eines Deals die solidarische Unterstützung ausbleiben könnte. Wir fordern kein heldenhaftes Verhalten. Es ist legitim, sich für einen Deal zu entscheiden. Wichtig ist es jedoch, diesen juristisch und politisch abzuwägen.
Was können die Folgen individueller Deals sein? Wir sollten Strategien im Umgang mit Repression ständig zur Diskussion stellen. Wir haben es mit einer Qualität von Repression zu tun, bei der schon ein Zucken während einer Festnahme eine Anzeige wegen Widerstand zur Folge haben kann und so die Anzahl der Leute, denen Strafbefehle zugeschickt und Verhandlungstermine gesetzt werden, stetig wächst. In Strafverfahren ohne Knast als Druckmittel werden oft Deals eingegangen, zum Beispiel wenn der Strafbefehl akzeptiert und das Geld eingezahlt wird. Auch hier müssen wir uns die grundsätzliche Frage stellen, wie weit wir uns auf unsere Feindbilder Justiz und Staatsanwaltschaft einlassen. Werden, wie am 9.7., massenhaft Leute festgenommen ist es wichtig kollektive Handlungsstrategien zu entwickeln. So kann die systematische Individualisierung überwunden und eine gemeinsame Stärke erreicht werden, die als Druckmittel dienen kann.
Klar sollte sein, dass Deals nie etwas Erstrebenswertes sein können. Denn ein Deal bedeutet auch, sich auf die Justiz einzulassen, was immer eine Gratwanderung ist, vor allem wenn der Prozess eine politische Dimension besitzt. Die Akte kann geschlossen und eine hohe Strafe verhängt werden, ohne dass die Verteidigung diese erneut anfechten wird. Der staatliche Verfolgungswahn wird dadurch legitimiert, jeder Deal kann die Justiz dazu einladen, zukünftig schneller Haft- oder Strafbefehle zu erlassen. Ökonomisch ist es ein Gewinn für die Justiz, da eine lange Beweisaufnahme und mehrere Prozesstage erspart bleiben. Auf der ökonomischen Basis ist es also auch möglich, Druck zu erzeugen und die kapitalistischen Zwänge anzugreifen. Die Taktik einen Prozess mit vielen Beweisanträgen in die Länge zu ziehen, ist ein Beispiel dafür, bedeutet aber gleichzeitig für eine Person im Knast, länger sitzen zu müssen.
Allein machen sie dich ein
Macht euch vorher Gedanken, wie ihr im Fall von gezielter Repression gegen euch damit umgehen wollt. Auf Demos sind Bezugsgruppen und eine gemeinsame An- und Abreise mit vertrauten Menschen unverzichtbar. So bekommt man mit, wenn jemand festgenommen wird und weiß dann, was zu tun ist. Am besten wurden vorher schonmal solche Situationen in der Gruppe besprochen. Geht jemand in einer chaotischen Situation verloren und taucht auch Stunden danach / am nächsten Tag nicht wieder auf, dann ruft den EA an, nehmt Kontakt mit der Roten Hilfe auf, fahrt ins Krankenhaus oder zur Bullenwache. Haltet eure Wohnungen sauber, vermeidet Spekulationen und offene Gespräche in Kneipen etc, passt auf euch und andere auf!
Lasst uns zusammenkommen
Nutzen wir die aktuelle Repression dafür, zusammenzukommen anstatt auseinanderzubrechen. Die staatliche Reaktion auf Proteste gegen Gentrifizierung und Polizeistaat ist vorhersehbar. Es ist eine Reaktion darauf, dass Nachbar*innen zu hunderten gegen Zwangsräumungen zusammenkommen und diese verhindern, Hausgemeinschaften sich gegen Mieterhöhungen wehren und nachts die Profiteure des Ausverkaufs der Stadt angegriffen werden. Je erfolgreicher wir dabei werden, Widerstand entschlossen auf allen Ebenen zu führen, desto härter werden die Herrschenden agieren und repressive Schläge sind Teil einer staatlich aggressiven Kampagne gegen uns. Dieses Jahr sind die verschiedenen stadtpolitischen Kämpfe näher zusammengerückt, haben sich aufeinander bezogen und miteinander gekämpft. Begreifen wir die Kontinuität des Widerstandes und lassen wir uns nicht einschüchtern. Kämpfen wir weiter für die Freiheit!